Unser Tangokurs steuerte seinem großen Finale entgegen – dem gemeinsamen Flug nach Buenos Aires. Die Aussicht auf eng an Irene geschmiegte Milongas in der pulsierenden Hitze der Südhalbkugel jagte meinen Puls schon jetzt in die Höhe.

Um neben ihr sitzen zu können, bekniete ich Sabine am Gate aufs Eindringlichste, unsere Tickets zu tauschen. Nach ihrem gönnerhaften „Ja“ rappelte ich mich aus der bittenden Haltung hoch und eilte in den Flieger. Als ich glücklich neben meiner Angebeteten Platz nahm, führte die Crew gerade von Schwimmwesen umhüllt die Sicherheitsmaßnahmen vor. Irene blätterte konzentriert in der Broschüre „Safety On Board“.
Sie schien im Grunde ihres Herzens schüchtern zu sein, denn sie sprach kaum ein Wort. Krampfhaft wühlte ich in mir nach Gesprächsthemen – aber auch noch nach mehreren Flugstunden ohne Erfolg.
„Wie begeht ein Tangotänzer Selbstmord?“, fragte ich sie nach einer Phase unangenehmer Flugturbulenzen. Anschließend hätte ich mir eine Kopfnuss verpassen können, denn ich hatte schon einmal versucht, ihr diesen Witz aufzudrängen. Ich biss mir auf die Zunge, bis der Schmerz unangenehmer war als die Peinlichkeit.
„Nicht schon wieder“, seufze Irene unwirsch und zwängte sich an mir vorbei in den Gang, wobei ihre Waden verführerisch meine Beine streiften. Die Boeing wurde erneut kräftig durchgerüttelt. Ich sah Irene taumelnd Richtung Kabinenraum verschwinden, der durch einen Vorhang zugezogen war. Ein überraschendes Luftloch, das uns unsanft hinunter riss, unterbrach mein Beobachten abrupt. Etliche Gepäckstücke fielen dabei aus den oberen Ablagen hinab und verfehlten mich dank meiner Abwehrbewegungen knapp.

Endlose Minuten verstrichen, ohne dass Irene zurück kehrte.
Mir fiel währenddessen das äußerst nervöse Treiben der gesamten Crew auf, – aber sie lächelten noch. So viel Zeit konnte nicht einmal der komplizierteste Toilettengang in Anspruch nehmen, dachte ich bei mir und machte mich besorgt auf die Suche nach Irene. Möglichst beiläufig näherte ich mich dem Vorhang, der durch die rüttelnden Turbulenzen einen Moment Sicht freigab. Ich war bestürzt, dort keine unpässliche, sondern eine mit unserem Lehrer tanzende, lachende und in Figuren verrenkte Irene vorzufinden. Kurz darauf wurde der Vorhang aufgezerrt und eine Stewardess wies an, derartige Aktivitäten während des Fluges sofort zu unterlassen. Unser Tanzlehrer umfasste die Flugbegleiterin ungehemmt, drehte sie einmal um sich selbst und rang ihr ein angewidertes Lächeln ab.
Irene und ich saßen wieder schweigend nebeneinander und wurden aufgefordert, uns aus sicherheitstechnischen Gründen unverzüglich anzuschnallen. Auch die Stewardessen folgten diesem Befehl des Piloten.

Es kam zu unerklärlichem Druckabfall.
Aus der Deckenverkleidung plumpste augenblicklich ein Heer aus Sauerstoffmasken. Sie baumelten verheißungsvoll vor unseren Nasen. Hastig griff ich zu meiner Oxygen Mask, um sie gegen mein doch überraschtes Gesicht zu pressen. Die Turbinen jaulten in ihrer charakteristischen Weise auf und der Rückstoßantrieb machte spürbar, dass jetzt ein äußerst konsequenter Sinkflug eingeleitet worden war.
Wir blickten unterdessen alle steil hinunter, – auch in unseren eigenen Abgrund.
Auf 12.000 Fuß angelangt, breitete sich die unvermeidliche Massenpanik aus, unter deren Einfluss sich Irene endlich vertrauensvoll an mich wandte. Aufgelöst und kreischend klammerte sie sich an mein Jackett. Mir war es stoischer Genuss, obwohl ich für unsere erste geglückte Annäherung jenseits des Parketts andere Umstände vorgezogen hätte.

Einige Passagiere versteinerten in betender Haltung, andere rüttelten sinnentleert an den Sitzen ihrer Vordermänner und riefen wild durcheinander, was die Masken zu verbergen wussten. Sie krümmten sich leidvoll zitternd, jammernd, um winselnd wieder hochzuschrecken und aufgebracht durch den Gang zu traben oder aus den Fenstern zu starren. Die schwarze Leere draußen versprach keine Rettung. Mobilfunktelefone wurden gezückt, um vielleicht letzte rührselige Botschaften abzusetzen.

Die Stewardessen verbarrikadierten jetzt das Cockpit mit ihren Airline-Trolleys, da immer mehr ungeduldige Passagiere tumultartig darauf drängten, ihre primärsten Fragen an höchster Stelle loszuwerden. Wenig später nahm eine der Flugbegleiterinnen todesmutig ihre Oxygen Mask ab und teilte schreiend mit, dass unser Faraday‘ scher Käfig inzwischen mangels hinreichender Sauerstoffversorgung der Pilotencrew führerlos über dem Atlantik trudelte.
Mayday!
Wer noch nicht mit dem Leben abgeschlossen hatte, tat es offensichtlich jetzt. Nur einige ruhigere Vertreter plünderten unbehelligt die Handgepäckablage und nahmen an sich, was vermeintlich noch zu gebrauchen war.

Im vorderen Teil der Maschine wurden bereits Fallschirme ausgeteilt. Irene und ich waren als erste an der Reihe. Ungläubig standen wir, von einer optimistischen Stewardess eng betreut, vor der heruntergelassenen Treppe des Fliegers, die ins schwarze Nichts ragte.
„Meinst du wirklich?“, fragte mich Irene mit großen Rehaugen.
„Haben wir eine Alternative?
Mit etwas Glück könnten wir die Azoren erwischen“, antwortete ich.
Hinter uns drängelte man schon, zuvorderst unser Tanzlehrer: „Geht das da mal weiter?“
„Wie geht der Witz, wie nimmt sich ein Tangotänzer das Leben?“, fragte mich Irene, sicherlich, um Zeit zu gewinnen.
Eine letzte dramatische Turbulenz, die das gesamte Flugzeug in Schieflage versetzte, nahm uns die eigentlich drängende Entscheidung ab und warf uns hinaus in die Dunkelheit. Dabei konnte ich Irenes Hand gerade noch erwischen.
„Nicht so ins Hohlkreuz gehen!“, schrie uns unser vornübergebeugter Tanzlehrer noch hinterher.

„Der Tangotänzer klettert weit, weit hinauf, immer höher, bis er ganz oben auf dem Gipfel seines Egos angekommen ist. Und dann springt er“, antwortete ich Irene endlich, in der Hoffnung, gegen das dröhnende Luftrauschen anzukommen.
„Und?“, rief sie mir entgegen.
„Auf dem Weg nach unten verhungert er, – unweigerlich!“
Dann zogen wir die Reißleinen. Irenes Fallschirm verhedderte sich unsäglich, alles Freistrampeln half nicht mehr. Meiner öffnete sich anstandslos. Ich musste noch mit ansehen, wie Irene von einer der Tragflächen des nun herabstürzenden Fliegers mitgerissen wurde.
Unter mir tat sich ein Himmelreich auf.

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